Kausale Inferenz in der Wahrnehmung von Eigenbewegung

Betrachten wir die wohlbekannte Illusion der Eigenbewegung, die entsteht, wenn eine Person, die in einem stationären Zug sitzt, einen benachbarten Zug abfahren sieht: Hier entsteht oft ein flüchtiges Gefühl der Eigenbewegung, während der andere Zug als stationär wahrgenommen wird. Was genau passiert im Gehirn, die diese illusorische Wahrnehmung erklären könnte?

Fragestellung

Der Mensch besitzt mehrere Sinnessysteme, die dem Gehirn Informationen über Bewegungsreize liefert: Visuelle Bewegung wird mit den Augen gesehen und physische Bewegung wird über das Trägheitssensorsystem wahrgenommen. Dieses System besteht aus dem Vestibulär Organ im Innenohr und aus verschiedenen druckempfindlichen Neuronen, die im ganzen Körper verteilt sind.

Zu Beginn der Illusion signalisiert das visuelle System dem Gehirn, dass eine translatorische Bewegung stattfindet, während das Inertialsystem nur Hintergrundgeräusche ausgibt. Diese visuelle Information ist aber mehrdeutig: Die gesehene Bewegung kann ebenso gut durch die Bewegung des eigenen Zuges (Eigenbewegung) verursacht worden sein, wie durch die Bewegung des anderen Zuges (Objekt-Bewegung). Hinzukommt, dass die Bewegung auch unterhalb der Erkennungsschwelle des Trägheitssystems liegen kann, falls sie von zu geringer Intensität ist. Da das System mit Rauschen behaftet ist, ist das Fehlen von Beschleunigungsinformationen also nicht unbedingt mit einem  kleinen visuellen Signal unvereinbar.

Um auf die Ursache der visuellen Stimulation schließen zu können, kann das Gehirn auf Vorwissen über die Welt zurückgreifen. In diesem Fall kann dieses Wissen reflektieren, dass die kohärente Bewegung des gesamten Sehfeldes in der Regel aus einer Eigenbewegung resultiert. Das Gehirn entscheidet also unter Berücksichtigung aller Informationen, dass hier eine Eigenbewegung wahrscheinlicher ist als eine Objekt-Bewegung. Da der andere Zug jedoch immer schneller wird, nimmt die Intensität des visuellen Signals weiter zu, während aber kein Trägheitssignal erscheint. Wenn die Diskrepanz zwischen den beiden Sinnessystemen mit der Interpretation der Eigenbewegung unvereinbar ist, löst sich die Illusion auf und führt zu einer Wahrnehmung der Objekt-Bewegung, d. h. der andere Zug bewegt sich.

Der hier beschriebene Mechanismus der Bildung von Wahrnehmungen aus sensorischen Signalen unter Berücksichtigung von Rückschlüssen auf ihre Kausalität sowie Vorkenntnisse wird durch eine Klasse von statistischen Modellen der Wahrnehmung wird in der wissenschaftlichen Literatur als „Causal Inference Modell (Modell der kausalen Inferenz/ursächlichen Folgerung)“ beschrieben.

Einige Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Forschungsgruppe Bewegungswahrnehmung und -simulation haben sich zum Ziel gesetzt, die Hypothese zu testen, ob das Gehirn eine kausale Inferenz bei der Bildung von Eigenbewegungswahrnehmung  und räumlicher Orientierung durchführt.

 

Wissenschaftlicher Ansatz

Obwohl das „ Modell der kausalen Inferenz“ mit der oben skizzierten Illusion konsistent zu sein scheint, ist nicht bekannt, ob das Gehirn tatsächlich so funktioniert. Die Modelle berücksichtigen die Eigenschaften der visuellen und inertialen Informationen und machen spezifische Vorhersagen über die Wahrnehmungen, die als Reaktion auf alle möglichen Kombinationen von visuellen und inertialen Reizen resultieren - einschließlich diskrepanter Kombinationen, die normalerweise nicht auftreten würden.

Um die Anwendbarkeit der Modelle zu testen, bedarf es daher der Charakterisierung des „Outputs“ der einzelnen Sinnessysteme als Reaktion auf spezifische Reize, der Vorhersage von Wahrnehmungen für alle möglichen multisensorischen Reize - und der Messung dieser Wahrnehmungen sowie der Bewertung der Leistungsfähigkeit der Modelle.

Jeder Schritt wirft eine Reihe von Problemen auf.

Erstens, wie misst man Wahrnehmungen? Es ist noch nicht möglich, Wahrnehmungen direkt aus dem Gehirn heraus zu erfassen, stattdessen wird von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Einschätzung ihrer Wahrnehmungen  verlangt. Das ist nicht ganz einfach, denn das Konzept der Eigenbewegungswahrnehmung ist multisensorisch und umfasst viele Eigenschaften: Translationen und Rotationen in mehreren Dimensionen, mit verschiedenen Intensitäten und Richtungen. Folglich muss für die Wahrnehmungen jeweils ein Merkmal nach dem anderen ausgewertet werden; Dies geschah sowohl für jedes sensorische System einzeln als auch in Kombination.

Zweitens, wie setzt man Teilnehmerinnen und Teilnehmern experimentell diskrepanten Kombinationen visueller und inertialer Reize aus? Um Situationen analog zur Zugillusion für unterschiedliche Bewegungscharakteristika zu simulieren, nutzten die Forscherinnnen und Forscher die Max-Planck-Bewegungssimulatoren (CyberMotion Simulator und Cyberpod) in Kombination mit „High-End“-Visualisierungsgeräten (Abbildung 1.) So konnte den TeilnehmerInnen und Teilnehmern eine beliebige Kombination von Inertial- und visuellen Reizen mit beliebiger Diskrepanz unter Beibehaltung einer hohen ökologischen Validität präsentiert werden.

Drittens, wie ermittelt man aus den Daten, ob das Gehirn gerade tatsächlich kausale Schlussfolgerungen ausführt? Da die menschliche Wahrnehmung von Natur aus ungenau ist, kann nicht erwartet werden, dass die Vorhersagen und Messungen der Wahrnehmung vollkommen übereinstimmen. Hier verglichen die Forscherinnen und Forscher die Leistungsfähigkeit von Modellen, die das Spektrum möglicher Wahrnehmungsmechanismen abdecken. Als das Modell der kausalen Inferenz (Causal Inference Modell) am besten funktionierte, wurde dies als Beweis für die Hypothese gewertet.

Mit diesem Ansatz wurde die Haltbarkeit des Modell der kausalen Inferenz (Causal Inference Modells) für die Wahrnehmung von Bewegungsrichtung [1,2,3], d. h. die Richtung der horizontalen linearen Eigenbewegung; und für die Wahrnehmung von Vertikalität [4] – d.h. die senkrechte Empfindung, geprüft.

 

Forschungsergebnis

In der ersten Studie zur Richtungswahrnehmung [1,2] wurden für die Diskrepanzen zwischen visueller und inertialer Richtung relativ große Toleranzen festgestellt (Abbildung 2). In einigen Fällen schienen sogar Abweichungen von bis zu 90° unbemerkt zu bleiben. Diese Ergebnisse deuteten darauf hin, dass Wahrnehmungen am besten durch ein Modell beschrieben werden könnte, dessen Verhalten gewichteter Mittelwertbildung der sensorischen Informationen ähnelt – dies würde das Modell der kausalen Inferenz (Causal Inference Modells) hinfällig machen. Allerdings wurde durch die Erhöhung der Bandbreite der Diskrepanzen in einer späteren Arbeit entscheidende Beweise für das Modell der kausalen Inferenz  (Causal Inference Modell) erbracht  [3]. Auch jüngste Arbeiten über die Wahrnehmung von Vertikalität [4], mit Diskrepanzen zwischen der visuellen und körperlichen Senkrechten bis zu 27°, deuten darauf hin, dass die Wahrnehmung von Orientierung als gewichteter Durchschnitt konstruiert ist. Eine genauere Betrachtung der einzelnen Ergebnisse dieser Studie lässt jedoch vermuten, dass diese Schlussfolgerung nicht für alle Studienteilnehmerinnen -und Teilnehmern zutrifft und spricht im bestimmten Fällen für das Modell der kausalen Inferenz  (Causal Inference Modell).

 

Seine Bedeutung 

Die Ergebnisse der verschiedenen Studien sind nicht eindeutig. Es stellt sich heraus, dass es nicht einfach ist, ein Experiment so abzustimmen, dass die gewählten Stimuli die richtige Auflösung liefern, um die Mechanismen aufzudecken durch die die  Eigenbewegungswahrnehmung entsteht. Durch die individuelle Auswertung der Daten einzelner Teilnehmerinnen und Teilnehmern konvergieren die Erkenntnisse aus einer Reihe von Studien jedoch in Richtung der Schlussfolgerung, dass Eigenbewegungswahrnehmung mit Hilfe kausaler Inferenz erzeugt wird.

Es werden weitere Studien benötigt, um  Mechanismen zu erklären, die andere Eigenschaften von Eigenbewegung erzeugen. Letztlich müssen die Ergebnisse dieser Untersuchungen dann in einem umfassenden Modell der Eigenbewegungswahrnehmung zusammengefasst werden.

Abgesehen von seinem neurowissenschaftlichen Wert könnte dieses Modell beispielsweise ein Werkzeug zur Beurteilung der Wirksamkeit von Bewegungssimulationen liefern und vorhersagen, ob der Mensch auf dem Mars unten von oben unterscheiden kann.

 

 

Literaturhinweise

  1. De Winkel, K.N.; Katliar, M.; Bülthoff, H.H. Forced Fusion in Multisensory Heading Estimation. PLoS One. 2015; 10.5
    DOI: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0127104
  2. De Winkel, K.N.; Katliar, M.; Bülthoff, H.H.
    Heading Coherence Zone from Causal Inference Modelling
    Proceedings  DSC 2015 Europe: Driving Simulation Conference & Exhibition, 67-70 (2015)
  3. De Winkel, K.N.; Katliar, M.; Bülthoff, H.H. Causal Inference in Multisensory Heading Estimation. PloS One. 2017; 12.1
    DOI: https://doi.org/10.1371/journal.pone.0169676
  4. De Winkel, K.N.; Katliar, M.; Diers, D., Bülthoff, H.H. What's Up: an assessment of Causal Inference in the Perception of Verticality. bioRxiv. 2017
    DOI: https://doi.org/10.1101/189985

 

Zur Redakteursansicht