Die Welt im Kopf
Ein Interview mit Prof. Dr. Heinrich Bülthoff, em. Direktor der Abteilung Wahrnehmung, Kognition und Handlung.
Heinrich Bülthoff prägte mit seiner Arbeit die moderne Psychophysik, die Wissenschaftsdisziplin, die die Beziehung zwischen Reizen und ihrer Wahrnehmung untersucht. Im Interview nimmt uns der emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik mit auf einen Spaziergang durch viele Jahre Forschungskarriere, ein virtuelles Tübingen und zu den Bewegungssimulatoren des Instituts.
Wie lässt sich Ihre Forschungsarbeit in wenigen Worten beschreiben?
Im Prinzip gehen wir der Frage nach: Wie kommt die Welt in unseren Kopf – und wie kommt sie da wieder raus? Dabei geht es im Wesentlichen um unsere Sinne, mit denen wir die Welt erfassen. Aber auch um die Welt selbst, in der wir uns bewegen – und zwar so sicher, dass wir nicht ständig mit Dingen zusammenstoßen und beispielsweise durch fremde Städte navigieren können.
Begonnen hat Ihre wissenschaftliche Laufbahn hier in Tübingen ...
Ich habe in Tübingen Biologie studiert und bei Professor Varju, der damals den einzigen Lehrstuhl für biologische Kybernetik in Deutschland innehatte, die System- und Regelungstheorie-Kurse als Vorlesungsassistent begleitet. So kam ich mit diesem Forschungsfeld in Kontakt, das Regelungsprozesse in biologischen Organismen untersucht. Später habe ich in meiner Diplomarbeit bei Professor Götz am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, eine Bewegungsillusion untersucht, also eine optische Täuschung, die die Taufliege Drosophila melanogaster als Bewegung wahrnimmt. Eigentlich durch Zufall, weil ich selbst in die Apparatur geschaut habe, habe ich bemerkt, dass diese Illusion auch beim Menschen funktioniert. Das war ein erster Hinweis darauf, dass ganz elementare Informationsverarbeitung bei Mensch und Fliege wohl ähnlich funktioniert.
Die Arbeit wurde in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht – ein fulminanter Start für eine Forschungskarriere. Trotzdem haben Sie entschieden, Ihrer Arbeit eine neue Richtung zu geben.
Ich habe mich eigentlich immer für die Informationsverarbeitung beim Menschen interessiert. Daher bin ich in die USA gegangen, zuerst ans Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, danach an die Brown University in Providence. Dort konnte ich mich jeweils diesem Thema widmen und meiner Arbeit gleichzeitig eine neue Dimension geben. Am MIT hatten wir Hochleistungsrechner zur Verfügung. Damit konnten wir Bewegungsillusionen simulieren oder visuelle Informationen gezielt verändern.
Können Sie ein Beispiel für die Erkenntnisse aus dieser Zeit geben?
Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass wir Objekte auch aus einer – uns bis dahin unbekannten – Perspektive erkennen können, wenn wir vorher genügend Ansichten aus anderen Blickwinkeln abgespeichert haben. Das war damals ein großer Streitpunkt. Die gängige Meinung war, dass unser Gehirn Objekte aus elementaren Bausteinen – ähnlich wie ein Architekturprogramm – zusammensetzt. Der Mensch nutzt für das schnelle Erkennen jedoch keine langsame mentale Rotation von Grundbausteinen, sondern verlässt sich eher auf den schnellen Vergleich mit vielen abgespeicherten Ansichten. Unsere Ergebnisse haben letztlich auch die Arbeit an maschinellen Sehsystemen revolutioniert. Visuelle Computersysteme berechnen Objekte heute – analog zu den Vorgängen im Gehirn – eher mit Hilfe von vielen Bilddaten und neuronalen Netzwerken als durch geometrische Berechnungen aus wenigen 3-D-Datensätzen.
An der Brown University konnten wir eine weitere wichtige Erkenntnis machen: Um sich im Kopf ein Bild von der Welt zu schaffen, messen Menschen den verschiedenen Informationsquellen unterschiedliche Bedeutung bei. Dabei gilt zu erwähnen, dass allein schon unser Sehsinn uns verschiedene Informationen wie zum Beispiel Schatten, Texturen und Bewegungen liefert, dazu kommen die diversen Daten unserer weiteren Sinne. Im Versuch kann man beispielsweise ein dreidimensionales Bild von einer Tasse zeigen. Gleichzeitig ertastet der Proband die Tasse mit den Fingern. Ist das Bild klar, verlässt er sich voll und ganz auf seine Augen. Ist das Bild unscharf, beginnen die Versuchspersonen die Tasse zu ‚begreifen‘ – ihre Form, Größe, Oberflächenbeschaffenheit und so weiter.
Wir konnten also zeigen, dass Menschen sogar in der Lage sind, multimodale sensorische Informationen in einer statistisch optimalen Weise zu verrechnen. Das heißt, Sinneswahrnehmungen werden ihrer Zuverlässigkeit nach gewichtet. Die Arbeiten zur Wahrnehmung von Form und Tiefe waren im Prinzip die Vorreiter der später sehr populären Wahrnehmungsforschung mit Bayes’schem Ansatz.
Aus den USA zurück in Tübingen, haben Sie als Direktor am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik als erstes die Innenstadt von Tübingen im Computer nachgebaut. Wozu das?
Wir wollten wissen, wie sich Menschen in ihrer Umgebung orientieren, wie sie sich in einer fremden Stadt zurechtfinden. Tübingen ist genial, um Navigation zu untersuchen, weil das Städtchen so verwinkelt ist, mit vielen Gassen. Ich habe im Virtuellen Tübingen sogar eine Verbindung zwischen zwei Straßen entdeckt, die ich bis dahin nicht kannte.
Kann man Navigation denn nicht in einer realen Stadt untersuchen?
Virtuelle Realitäten sind für uns wichtige Werkzeuge. Wir können unter sehr kontrollierten Bedingungen arbeiten und schaffen trotzdem eine Versuchssituation, die der Realität nahekommt. Außerdem haben wir in einer virtuellen Stadt die Möglichkeit, so genannte Landmarken zu versetzen, also zum Beispiel den Marktplatz zu verschieben oder markante Gebäude zu vertauschen. Auf diese Weise kann man herausfinden, welche Merkmale vorwiegend zur Orientierung benutzt werden. Orientieren sich die Probanden an abgespeicherten Ansichten von Straßenecken oder einem aufragenden Kirchturm? Am Ende hat sich aber herausgestellt, dass Navigation individuell auch höchst verschieden ist.
Mit Computergraphik, virtuellen Realitäten und Bewegungssimulatoren wurden sie zu einem der Pioniere der modernen Psychophysik. Wie haben diese sehr technischen Methoden das Fachgebiet revolutioniert?
So sehr mich Wahrnehmung von Anfang an fasziniert hat, hat mich irgendwann die traditionelle Herangehensweise der Psychophysik frustriert. Die meisten Experimente beruhten auf sehr reduzierten Stimuli, wie beispielsweise den Streifenmustern, mit denen das Bewegungssehen sowohl der Fliegen als auch der Menschen über viele Jahre hin untersucht wurde. Das Leben findet aber nicht im Labor statt, und die Anforderungen an die Wahrnehmung sind im Alltag weit komplexer, weil vielfältige Reize auf uns einströmen, die das Gehirn zu einer Gesamtinformation verrechnen muss. Mit modernen Methoden der Computergrafik und der virtuellen Realität ist es uns gelungen, sehr realitätsnahe Experimente zu entwickeln. Damit konnten wir die Psychophysik auf eine andere Ebene heben: Wir können so ein umfassenderes Bild zeichnen von den kognitiven Vorgängen im Gehirn, von den Wahrnehmungs- und Lernprozessen, die ablaufen, wenn Menschen mit komplexen Umgebungen interagieren.
Sie haben für Ihre Arbeit einen beeindruckenden Gerätepark zur Verfügung ...
Ich war in der glücklichen Lage, dass mir die Max-Planck-Gesellschaft dafür sogar ein eigenes Forschungsgebäude spendiert hat, das Cyberneum. Hier haben wir in den letzten fünfzehn Jahren unter anderem zwei weltweit einzigartige Bewegungssimulatoren entwickelt, mit denen wir genau diesen Fragen nachgehen können. Mit unserem CyberMotion-Simulator, einem stark modifizierten Industrieroboter mit Kabine, können wir die Wahrnehmung von Eigenbewegung sehr präzise untersuchen. Der CableRobot-Simulator besteht aus einer Kabine, die über eine komplexe, neuartige Seilkonstruktion bewegt wird. Beide verfügen über einen großen Bewegungsspielraum und erlauben flexible und hochrealistische Bewegungsabläufe – von Autorennen über Helikopterflüge bis hin zu kaum wahrnehmbaren Bewegungen, die wichtig sind, um den Gleichgewichtssinn zu erforschen.
Wenn Sie auf ihre Laufbahn zurückblicken: Was ist Ihnen besonders wichtig?
In den letzten Jahren konnten wir unsere einzigartige Infrastruktur nutzen, um auch anwendungsbezogener zu arbeiten. Wir habe viel gemeinsam mit Ingenieuren, Entwicklern und der Industrie gearbeitet. Mit unseren Simulatoren können wir nicht nur Grundlagenforschung betreiben. Wir können mit unserem Know-how auch Entwicklung unterstützen. Als eine der ersten begannen wir beispielsweise zu untersuchen, was es braucht, um sich in autonomen Fahrzeugen sicher zu bewegen. Zudem fließen unsere Erkenntnisse in die Weiterentwicklung von effizienten Bewegungssimulatoren. Durch diese anwendungsbezogene Arbeit, habe ich das Gefühl, der Gesellschaft ein bisschen was von dem zurückgeben zu können, was wir an Möglichkeiten und finanziellen Mitteln für unsere Forschung bekommen haben.
Wichtig ist mir aber auch, dass ich in all den Jahren immer das Glück hatte, mit sehr vielen interessanten Leuten zusammenzuarbeiten. Das ist ja nicht alles alleine meine Forschung. Ich hatte viele sehr gute Doktoranden und Postdocs und immer wieder interessante Gastwissenschaftler, die mit uns gearbeitet haben. Und es sind auch eine ganze Reihe Professoren aus meiner Abteilung hervorgegangen. Das stimmt mich sehr zufrieden.